Autor: Dr. Oliver Gliech
Bibliografie: Naturkatastrophen in Lateinamerika
Ort der Tagung:
Lateinamerika-Institut der FU Berlin, Raum 201
Rüdesheimer Str. 54-56
14197 Berlin
Die meisten Länder Lateinamerikas liegen in tektonischen Gefahrenzonen und werden infolgedessen regelmäßig von mehr oder weniger schweren Erdbeben heimgesucht. Während im Andenraum konvergierende Bewegungen der Nazca- und der südamerikanischen Platte seit Jahrhunderten zu seismischen Spannungen führen, driften in Mittelamerika und der Karibik drei Platten – die nordamerikanische, die Cocos- und die karibische Platte – mit ähnlichen Konsequenzen auf einander zu. Die schweren Erdbeben der Hemisphäre fordern nicht nur zahlreiche Menschenleben und verursachen beträchtliche materielle Schäden, sondern erschüttern auch Staat und Gesellschaft der betroffenen Länder. Tragödien diesen Stils durchziehen die Geschichte des Kontinents von der Frühzeit der indigenen Besiedlung bis in die Gegenwart. Da viele Erdbeben politische, soziale, kulturelle, psychologische und siedlungsgeografische Folgen hatten, stoßen diese Ereignisse nicht allein bei Geologen, sondern auch bei Historikern, Ethnologen, Soziologen und Politologen auf breites Interesse.
Im Laufe des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts kam es in einer Reihe lateinamerikanischer Länder zu seismischen Katastrophen, die alle Lebensbereiche der betroffenen Regionen in Mitleidenschaft zogen. Argentinien registrierte seit 1900 59 mittlere und schwere Erdbeben, Zentralmexiko erlebte 13 solcher Ereignisse, Nicaragua verzeichnete 90, Peru 114. Einige seismische Katastrophen gelten als Zäsur in der Geschichte der betroffenen Länder. Das Erdbeben, das 1944 Córdoba (Argentinien) erschütterte, erlaubte es Juan Domingo Perón, sich als Krisenmanager zu präsentieren, und spielte beim Aufstieg der peronistischen Bewegung eine bedeutende Rolle. Die seismische Katastrophe, die 1985 Oaxaca und die mexikanische Hauptstadt heimsuchte, paralysierte zeitweilig weite Teile des Regierungsapparats der herrschenden Staatspartei PRI und löste Debatten über die Legimität ihrer Herrschaft aus. 1970 wurde in Peru die Stadt Yungay von einem Erdbeben mit nachfolgendem Bergrutsch und Überschwemmungen weitgehend ausgelöscht. Im Dezember 1972 zerstörte ein ähnliches Ereignis die nicaraguanische Hauptstadt Managua und untergrub die damals herrschende Somoza-Diktatur, die durch den schamlosen Diebstahl der Hilfsgüter für die Erdbebenopfer große Teile der nicaraguanischen Gesellschaft gegen sich aufbrachte. Sie gilt als einer der Auslöser der sandinistischen Revolution, die 1979 zum Sturz Somozas führte. 2010 erlitt Haiti verheerende Schäden durch die schwersten Erderschütterungen seiner Geschichte, die das öffentliche Leben des ärmsten Landes der westlichen Welt weitgehend lahmlegten. Die Folgen dieser Katastrophe sind bis heute nicht überwunden.
Gerade für die ärmeren Staaten Lateinamerikas stellt die Erdbebengefahr eine große Herausforderung dar, da sie diese zwingt, überproportional hohe Mittel für die Vorsorge und Beseitigung der materiellen Schäden dieser Naturkatastrophen bereitzustellen. Sie gehören zu den Faktoren, die die Umsetzung der von der UNO definierten Milleniumsziele zur Überwindung von Armut und Unterentwicklung erschweren.
Im Rahmen des Symposiums "Erdbeben in Lateinamerika. Politische, soziale und kulturelle Dimensionen der Katastrophenbewältigung in vergleichender Perspektive", das - finanziert vom DAAD - vom 24.-26.10.2013 am Lateinamerika-Institut der Freien Universität stattfinden wird, werden 18 lateinamerikanische Alumni verschiedener Fachrichtungen und eine kleinere Zahl von Spezialisten unterschiedliche Aspekte des Umgangs mit Erdbeben in den einzelnen Ländern der Hemisphäre diskutieren. Die verschiedenen Dimensionen der Katastrophenbewältigung sollen dabei aus politologischer, soziologischer, historischer, ökonomischer und psychologischer Perspektive betrachtet werden.
Der Livestream-Zugang zur Tagung setzt eine Einschreibung beim deutschem Alumni-Portal voraus. Diese Einschreibung ist kostenfrei und steht allen Interessenten offen.